Der verlorene Freund

Autor: Uschi Flacke


Als Link aufwachte, spürte er eine bleierne Schwere in sich. Die zeitlose Traumnacht hatte ein Vermächtnis in ihm hinterlassen, aber er vermochte es nicht zu ergründen. Im Nebel der vergangenen Träume lag etwas verborgen, das nicht zurück in sein Bewusstsein aufsteigen wollte. Es quälte ihn, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Was war das, das er nicht greifen konnte? Das wie Zeitasche aufgewirbelt und vom störrischen Nordwind davongetragen wurde? Es war, als würde es sich immer weiter von ihm entfernen und davonstoben.
Link war noch jung, so jung! Obwohl er kaum vierzehn Jahre zählte, hatte er schon so viele Kämpfe durchlebt, so viele Siege errungen, hatte Hyrule verlassen, Termina hinter sich gelassen und war immer noch auf der Suche nach seinem verlorenen Freund. Und jetzt gab es ein Traumbild, ausgerechnet irgend so ein verfluchtes Traumbild, das Macht über ihn gewonnen hatte und ihn bis in die letzte Faser seines Herzens verwirrte.
Atemlos hastete er durch die Wälder, dem Sonnenaufgang entgegen, als könnte er so die verlorene Erinnerung zurückholen. Das Wissen, das sich etwas Entscheidendes ereignet haben musste, peitschte ihn auf, hetzte seinen Körper voran. Weiter, nur weiter! Bis er erschöpft unter den ausladenden Ästen einer altehrwürdigen Eiche zusammensank.
In diesem Moment wurde er von einem gleißenden Lichtstrahl geblendet. Er rückte zur Seite und entdeckte, dass nicht weit von ihm in einer Grotte ein Spiegel aufgestellt war. Ein goldgerahmter Spiegel, der das Licht der Sonne reflektierte. Link schüttelte verwundert den Kopf. Ein Spiegel? Und eine Grotte? Er kannte doch die Wälder, und diese höher gelegene Steinhöhle war ihm noch nie aufgefallen. Aber vielleicht war das ja nur ein Blendwerk seiner eigenen Fantasie. Er zwinkerte mit den Augen, aber der Spiegel löste sich nicht auf, im Gegenteil, er schien plötzlich aus sich selbst heraus zu leuchten. Link schaute hoch zum Himmel. Die Sonne war jetzt von Wolken verdeckt. Ihre Strahlen konnten sich nicht im Spiegelglas verlieren. Trotzdem glänzte er wie flüssiges Silber.
Vorsichtig ging er näher. Ob das ein Machwerk dunkler Zauberkräfte war, die ihm eine Falle stellen wollten? Da entdeckte er, dass sich auf der Oberfläche des Spiegels wundersame Zeichen regten. Sie wirkten wie düstere Rauchzeichen, die sich miteinander verbanden, umschlangen und aus denen Bilder wuchsen. Link starrte wie benommen in den Spiegel. Was war das, das plötzlich seinen Herzschlag pulsieren ließ? Irgendetwas sog plötzlich die Wärme aus seinem Körper und ließ ihn wie hypnotisiert erstarren.

Die dunklen Staubwolken formten sich zu einem grässlichen Koloss, grünliche Augen starrten Link entgegen, klebrige Tränen tropften von den Augenhöhlen zu Boden und fraßen eine Mulde in den steinernen Boden, wo sich eine gelbgrünliche, dampfende Pfütze sammelte. Ein beißender Geruch wehte Link entgegen. Benommen versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Woher kannte er nur diesen ätzenden Gestank …?
Jetzt hinkte der Koloss zur Seite, ein weiteres Geschöpf wurde aus den Rußschwaden geboren. Aus einem Klumpen Rauch wuchsen riesige Spinnenbeine, zottelig behaart, mit roten Risskrallen und drei hypnotische Blutaugen, die ihm unverwandt entgegen starrten. Un-verwandt? Aber irgendetwas lag in diesen Augen, das Link bekannt vorkam. Woher kannte er nur diesen Blick …?
Dann schwebten von allen Seiten Spiegel heran, deren Oberflächen dampften und schillerten. Sie waren beweglich, verzerrten das, was sie zeigten, wölbten sich, während schallendes Gelächter durch das Gewölbe widerhallte, als würde es von Tausenden von Spiegelwänden zurückgeworfen. Einer der Spiegel warf das Bildnis von Link zurück. Er sah sich selbst, sein schmächtiger Oberkörper wuchs, wurde breiter, die Armmuskeln stärker. Sein Gesicht männlich schön. Woher kannte der Spiegel nur seine geheimsten Träume ...?

Schließlich formten sich wundersame Blumen. Sie waren so groß wie Link und aus brennendem Rot gemacht. Die Blütenblätter waren hauchdünn, schimmerten wie Seide und wölbten sich verführerisch hin und her, als würden sie sich sacht in einem sirrenden Frühlingswind wiegen. Grelles Rot umhüllte die Blüten wie ein Feuerschein. Dann öffneten sich die Blüten wie zu einem riesigen Maul, in dessen Schlund Flammen aufloderten. Link zitterte. Wieso kam ihm dieser Flammenschlund bekannt vor ...?

Plötzlich glänzte über den Dämonengestalten das Triforce auf, das golddurchdrungene Dreieck voller Macht. Ein einziger Wunsch brannte in Link auf, der Wunsch, zu wissen, was ihn mit diesen Gestalten verband, die so grässlich und ihm doch so vertraut waren.
In diesem Moment zersprangen die Spiegel, das laute Zerbersten verband sich mit schallendem Lachen. Nur der eine, in dem das Wunschbild von Link zu sehen war, blieb unversehrt. Wie gleißende Lichtpfeile sausten die Splitter durch die Luft und umkreisten Links Spiegelbildnis, während die zottelige Langhaarspinne mit ihren roten Risskrallen eines der Blütenmäuler abschlug, es fest umklammerte und damit wie irre winkte. Der schleimtränende Dämon wiegte sich grölend im Tanz. Nur das Triforce schien zu brennen wie flüssiges Gold, als wollte es Link etwas mitteilen.
Da schwebte eine sirrende Stimme durch seinen Kopf, samtig und eindringlich:

Sieben Mal musst du bereiten
Sieben Höhlen zu durchschreiten
Sieben Himmel zu durchsteigen
Sieben Wunder aufzuzeigen
Müh im Wissen, lauter, rein
Weit das Enge, leicht das Sein
Klein sei groß und groß sei klein
Lebensblut des Glückes Stein

Lebensblut des Glückes Stein? War hier etwa vom wahren Stein der Weisen die Rede? Vom Blut, das durch deine Adern fließt? Von deiner Seele, die nach der Läuterung aufsteigen wird? Und von sieben? Der heiligen Zahl sieben? Hatten ihm die Sieben Weisen das Triforce gesandt, um den Weg zu weisen? Den Weg zu seinem verlorenen Freund?
Link überlegte. Das Triforce, das waren die drei Eigenschaften Weisheit, Mut und Kraft. Er WAR weise, mutig und kraftvoll. Er hatte gelernt, diese Fähigkeiten in Gold zu verwandeln. Link stockte. Eisige Kälte schoss durch seine Adern. Und jetzt wusste er: hinter dem Spiegel lauerten noch vier Dämonen! Vier Dämonen, die er in sich noch nicht besiegt hatte: Den grüngelben Koloss des Neides, den spinnenbeinigen Dämon der Rache, das rotbeißende Geschöpf der Eifersucht, das falsch glänzende Bild der Eitelkeit mit den spitzen Geschossen, die einen bis zum Selbstwahn aufstacheln konnten …
Link wankte benommen. Und er wusste, was zu tun war, was der Traum ihm aufgetragen hatte, um sich selbst, den verlorenen Freund wiederzufinden! Er hob zitternd eine Hand, streckte sie dem Spiegel entgegen, wo hinter den tobenden Dämonengestalten ein dünnes Goldlicht schimmerte. Das musste der sichtbare Stein der Weisen sein, das ewige Licht der Liebe. Schritt für Schritt ging er auf die Spiegelwand zu. Als er vorsichtig den Fuß hinein streckte, löste sich die Oberfläche auf wie wässrige Luft, verschwamm und zog kreisende Wellen. Nach und nach nahm der Spiegel ihn ganz auf, und Link begab sich auf das größte Abenteuer seines Lebens, auf die Reise zu sich selbst.