Schreibwettbewerb 2004
DIEBE

Die Feenträne

Ich bin pünktlich am Treffpunkt. Ein düsteres Lokal, verrauchte Luft, ein Strudel aus Stimmen im Hintergrund. Ich lasse meinen Blick einmal durch den kleinen Raum schweifen, suche nach einem weißen Hut, entdecke aber keinen. Der Auftraggeber ist noch nicht da. Ich setze mich und warte. Es dauert wenige Minuten, dann tritt ein junger Mann durch die Tür. Er ist ganz in weiß gekleidet. Sein Anzug ist zu hell und zu teuer für diesen Ort – er passt nicht hierher. Auch er sieht sich suchend im Raum um. Ich gebe ihm das verabredete Zeichen und er kommt hinüber. Als er sich zu mir setzt, kann ich erkennen, dass er offensichtlich Schmerzen hat. Seine Bewegungen wirken verkrampft, wie die eines sehr viel älteren Menschen. Sein Gesicht wirkt bleich, nicht einmal die helle Kleidung kann das kaschieren. Dann trifft mein Blick seine Augen. Seltsam glanzlose dunkle Augen, von deren Anblick ich mich nicht mehr losreißen kann. Solche Augen habe ich noch nie gesehen. Sie wirken so stumpf und leblos, dass ich einen Moment überlege, ob mein Gegenüber blind ist – und doch scheinen sie Alles zu sehen. Eine undefinierbare Bedrohung geht von ihnen aus. Obwohl das Gefühl fast mit Händen zu greifen ist, kann ich es nicht fassen...
Seine Stimme reißt mich aus meiner Verwirrung. Sie ist genauso unheimlich wie die Augen. Ich kann den Akzent nicht einordnen. Sein Sprechtakt ist ungewöhnlich und lässt all die leisen Worte zu einem einzigen Singsang verschmelzen. „Der Auftrag ist schwierig, deshalb habe ich Sie ausgewählt. Wie man hört, sind sie führend in der Branche...“ Er lässt den Satz seltsam unvollendet in der stickigen Luft schweben. Ich überlege kurz, ob er jetzt irgendeine Reaktion erwartet, nicke dann aber nur knapp und warte auf weitere Ausführungen. „Sie sollen mir die Feenträne beschaffen. Das ist ein... Stein.“ Seltsam, wie er das Wort spricht... als fände er es absurd, es so zu bezeichnen. Aber wahrscheinlich ist das nur sein Akzent. Ich nicke wieder kurz. „Die Bezahlung?“ „Zwanzigtausend ohne Rückzahlung bei Missionsantritt, fünfhunderttausend bei Lieferung.“ Ich lasse mir meine Verblüffung nicht anmerken. Mir war gesagt worden, dass es sich lohnen würde, aber eine halbe Million für einen einfachen Kunstdiebstahl ist viel. Ein weiteres Nicken zeigt mein Einverständnis. Mein Auftraggeber holt einen unbeschrifteten braunen Papierumschlag aus der Tasche und reicht ihn mir. Er ist relativ schwer. „Die wichtigsten Informationen und der Vorschuss. Sie haben zwei Monate Zeit.“ Er erhebt sich mühsam und verschwindet im hellgrauen Zigarettendunst, der wie schwerer Nebel zwischen den Tischen hängt. Eine Weile bleibe ich noch sitzen, dann verlasse auch ich den Raum.

Die Wanderung

Draußen ist es kalt und feucht. Der Geruch von Regen hängt in den dämmrigen Schatten zwischen den Häusern – nasser Staub und dampfender Asphalt. Nicht einmal der Regen kann die Stadt säubern.
Ich mache mich auf den Weg. Es ist weit, aber hier würde niemals ein Taxi halten. Die Kälte frisst sich nur langsam durch den teuren Mantel, ich habe Zeit. Kurz denke ich daran, den Umschlag zu öffne, die Akten jetzt zu lesen, verschiebe das aber sofort auf später. ‚Operation Feenträne’ kann warten... Ich kann mich nicht konzentrieren, meine Gedanken schweifen ab. Ich achte nicht mehr auf meine Umgebung, bin mir nicht sicher, wo ich hinlaufe. Mein ganzes Leben hat sich in eine endlose Wanderung verwandelt. Täglich ändern sich die Wege und doch bleibt alles, was mich umgibt in Dunkelheit getaucht. Millionen von Eindrücken, Gesichtern, Gefühlen rasen an mir vorbei, ohne dass ich ihnen Beachtung schenke. Und jede Bemühung, meine Aufmerksamkeit auf sie zu richten endet in tiefem Schmerz. Ich habe längst vergessen, wo ich hin wollte...
Ich habe auch vergessen, warum ich weiter mache. Vielleicht, weil es mir unmöglich ist, aufzuhören. Denn eine Wanderung ist erst beendet, sobald das Ziel erreicht ist. Und die sind verschwunden. Seit du weg bist, gibt es keine Ziele mehr.

Der Untergang der Welt

Irgendwann werde ich mir bewusst, dass ich bei dir bin. Die Luft ist hier klarer und der Boden ist nicht von Beton bedeckt, sondern von einem akkurat gepflegten Rasen. Kurz durchzuckt mich der Gedanke, dass dir das nicht gefallen hätte. Du mochtest Wiesen und hasstest streng gepflegte Gärten.
Die Regentropfen glitzern auf dem Marmor. Bei dem dämmrigen Licht wirkt er strahlend weiß. Aber ich weiß, dass der Stein grau ist.
Mein Blick ruht auf den wenigen Schriftzeichen, die die glatte Oberfläche des Marmors durchbrechen. Der Name, den du mir nanntest und ein Datum.
Was die Nachwelt hier lesen kann, ist der Tag an dem wir uns kennen lernten.
An diesem Tag strahlte der Himmel in einem blendenden Grau. Die Sonne zeichnete sich als matte Scheibe hinter den Wolken ab. Du sagtest, dass es so auch am Ende der Welt sein würde. Ich verstand es nicht und trotzdem ging ich zu dir. Wir blieben zusammen.
Jetzt ist mir klar, dass es ein Fehler war. Dass es so enden musste.
Aber damals war ich glücklich.
Seltsam... wie Glück sich in der Erinnerung anfühlt...
Obwohl der Schmerz bei dem Gedanken an dich wesentlich realer ist und meine ganze Seele zu überfluten droht, kann er es nicht schmälern. Es ist unverrückbar in mir festgewachsen, nur mit einem Hauch von Trauer überzogen...
Der Marmor deines Steines hat die gleiche Farbe, wie der Himmel damals...
Dort steht nicht der Tag, an dem du mich verlassen hast. Der Gedanke, dass dieser Tag als einziges Zeugnis deiner Existenz hier verewigt wird, war mir unerträglich. Ich konnte es nicht tun. Obwohl es passend gewesen wäre, dieses Datum auf einen Grabstein meißeln zu lassen.
Denn dieser Tag markiert das Ende meines Lebens, den Untergang der Welt...

Der Höllenzirkus

Mein Leben und dein Leben... Es war niemals einfach, aber zumindest ich war für einige Zeit glücklich. Und du vielleicht auch...
Wir haben zusammen gearbeitet. Nichts war sicher vor uns. Wir führten in unserer Branche, gelangten zu einiger Bekanntheit. Eines Tages berichtete ein Journalist über uns. Er war der Erste, der uns ‚Bonnie und Clyde’ nannte. Es blieb bei den Leuten hängen. Absurd und doch in gewisser Weise passend. Ich weiß noch, wie sehr du gelacht hast, als ich dir davon erzählte. Du hattest schon immer eine Schwäche für Ruhm gehabt. Ich dagegen hatte zu viel Angst vor unserer Entdeckung.
Wir waren wirklich ein gutes Team. Eingespielt wie die Trapezkünstler im Zirkus. Und im Grunde waren wir nichts anderes als eben das: Artisten. Immer kurz vor dem Absturz und doch sicher. Auf frischer Tat wären wir wohl nie ertappt worden.
Das wirklich Gefährliche war immer die Übergabe. Wir gingen stets allein zu solchen Treffen, aber wir hatten jedes Mal Glück. Man hat uns nie gefasst, obwohl es einige brenzlige Situationen gab. Wir lieferten uns Katz-und-Maus-Spiele mit der Polizei und einzelnen, hartnäckigen Versicherungsdetektiven, aber immer entkamen wir.
Aber dann ging doch ein Auftrag schief. Ich weiß bis heute nicht, was damals geschah. Du hattest dich mit dem Klienten getroffen und alles vereinbart. Dann wurde ich allerdings krank und du beschlossest, die Operation allein durchzuziehen. Ich hatte keine Bedenken. Es gab keinen Grund zu Befürchtungen, es war nicht besonders schwierig. Du solltest einen Gegenstand aus einer Villa klauen.
Ich machte mir erst Sorgen, als du am nächsten Morgen noch nicht zurückgekehrt warst. Dann las ich in der Zeitung, dass man deine Leiche in einem der Vororte gefunden hatte. Eine Weile lief es in allen Nachrichten. Es war ein mysteriöser Fall. Bis heute ist die Todesursache unbekannt. Es gab keinerlei Verletzungen, das konnte ich selber sehen, als ich deine Leiche identifizieren musste...
Damals hat mein Leben einfach aufgehört. Ich wollte nicht mehr weitermachen, aber ich schaffe es auch nicht, es zu beenden. Vielleicht weil da in mir der Wille ist, zu erfahren, warum du sterben musstest und wie es geschah. Aber vielleicht bin ich auch einfach zu feige. Fürchte mich vor dem Tod, wie ich mich damals vor der Festnahme fürchtete. Du warst schon immer viel mutiger als ich. Mut ist alles was man braucht in dieser Welt.
Diesem Höllenzirkus.

Die Operation

Der Einbruch verläuft wie geplant. Es ist nicht mal ein Museum mit Sicherheitsbeamten, sondern nur ein recht gut gesichertes Privathaus. Alle Informationen, die die Akte enthielt stimmen und es gibt keine unerwarteten Umstände. Die Alarmanlage ist schnell geknackt und lahmgelegt. Die Gänge des Hauses liegen dunkel und verlassen vor mir. Einen Augenblick lang zögere ich, traue dieser Ruhe und Stille nicht. Ich verweile einen Moment und lausche, die Nerven zum Äußersten angespannt, aber da ist nichts. Ich setze mich in Bewegung und erreiche wenige Minuten später das gesuchte Objekt. Unter einer Halbkugel aus Glas liegt die Feenträne mitten im Raum auf einem Sockel aus matt glänzendem, hellen Metall. Wie ein Stück Käse in einer Mausefalle, schießt es mir flüchtig durch den Kopf. Ich lächle leicht. Denke daran, für wie unsinnig du solchen Gedanken gehalten hättest. Dann sehe ich mir den Stein genauer an. Sofort bin ich fasziniert von der eigentümlichen... Aura, die er auszustrahlen scheint. Aura... Ein bizarres Wort, um einen Stein zu beschreiben, aber ich kann kein besseres finden. Auf jeden Fall ist es kein gewöhnliches Juwel. Ich trete näher und beginne, die Sensoren am Sockel auszuschalten. Mein Blick wird aber immer wieder von dem seltsamen Gegenstand gefangen genommen. Er leuchtet nicht wirklich, aber dennoch umgibt ihn eine gewisse Wärme. Seine Farbe ist nicht bestimmbar, besonders nicht in dem schlechten Licht, das in dem Raum herrscht, aber in seinem Inneren scheinen sich Schatten zu bewegen. Es sieht aus wie wirbelnder Rauch oder Wasser und doch ganz anders und fremd.
Schließlich kann ich die Glocke abnehmen, ohne den Alarm auszulösen und lege sie lautlos neben den Sockel auf den Boden. Beinah ehrfürchtig nähere ich mich dem Stein, nehme ihn in die Hand. Er ist im ersten Moment eigenartig warm...
doch dann wird er plötzlich kalt, kälter als Eis. Im gleichen Moment tritt eine Person hinter mir durch die Tür. Ich will fliehen, aber meine Beine gehorchen mir nicht, scheinen mit dem Boden verwachsen zu sein. Der Stein in meiner Hand wird immer kälter, zieht alle Wärme aus meinem Körper. Ich gerate in Panik, versuche, ihn fallen zu lassen, aber auch meine Arme sind gelähmt. Einem Schatten gleich tritt die Person hinter mir in mein Blickfeld. Als ich meinen Auftraggeber erkenne, durchzuckt mich Überraschung. Nur ganz kurz denke ich an eine Falle der Polizei, zu absurd erscheint mir das Ganze. Der junge Mann blickt mich aus seinen unheimlichen, tiefschwarzen Augen an. Er bewegt sich kraftvoller als bei unserer letzten Begegnung. Mir scheint es, als würde er vor mir wachsen. Ich fühle mich müde. Die Erschöpfung kommt schleichend, aber unausweichlich. Ich gehe in die Knie, den Stein immer noch fest umklammert. Der Auftraggeber beugt sich zu mir hinunter und ich blicke auf in ein hämisch grinsendes Gesicht. Die schwarzen Augen sind vollkommen leer und plötzlich weiß ich, was geschehen wird und was geschehen ist. In dem Maße in dem mich meine Kraft verlässt wird das Grinsen breiter. Auch mich wird man in einer Seitenstraße finden. Unverletzt. Leblos. Mein Blick richtet sich auf den Stein. Die Seelen führen darin einen wilden Tanz auf, bald werde ich eine der ihren sein. Gefangen für immer. Ich schließe die Augen, ein Lächeln auf dem Gesicht. Bald werde ich bei dir sein.
Auf ewig.