Assoziationsgeschichtenwettbewerb 2
Crowbar hat folgenden Oberbegriff / Thema gewählt: Winter

bereth sagt dazu: sternenklar, Eis- und Beinbruch
Hylia sagt dazu: Tod, Nebelbank
CAMIR sagt dazu: Schneemann, frieren
HeyDay sagt dazu: Adventssonntage, Singen
Sirius sagt dazu: Nihilismus, Menschenfeind
Senfsamen sagt dazu: Weihnachtsrestefressen, Die Jahresuhr
pondo sagt dazu: vereiste Schaukel, Endzeitgedanken

Auf gefrorenem Grund

Der Schnee, der beständig aus den dichten Wolken rieselte, die schon den ganzen Tag jegliches Sonnenlicht aussperrten, hatte sich am Boden mit der Asche vermischt und sich grau gefärbt. Die rechte Hand des jungen Mannes, der schon tagelang durch die Kälte nach, wie er hoffte, Süden stolperte, hatten sich um den Griff seiner Pistole gekrampft, die er in der ständigen Bereitschaft, zuerst zu schießen, mit gestreckten Arm vor sich hielt.
Der Mann war beinahe zwei Meter groß, hatte kurzes, schmutziges braunes Haar und einen sorgfältig gestutzten Bart, die blauen Augen flackerten unruhig aus tiefen Höhlen empor. Der Mann war sehr dünn, was er mit einer wahllos scheinenden Zusammensetzung von Winterkleidung wieder wett zu machen versuchte – verschiedene Hemden, ein Pullover mit hochgezogener Kapuze, darüber eine zerschlissene Winterjacke, deren rechter Ärmel nur noch mit Isolierband am Torso befestigt war, einen Schal und mehrere Dicke Socken über seine Armeestiefel – all das half aber nur wenig gegen den beißenden Wind, der ihm seit Tagen ins Gesicht wehte.

Ein zusammengerostetes Straßenschild kündigte eine Stadt an. Nur noch wenige unzusammenhängende Buchstaben waren zu lesen, so konnte er nicht erschließen, wie sie hieß. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Er kletterte über das umgekippte, quer über der Straße liegende Werbeschild einer Fast Food-Filiale, deren ausgebranntes Gerippe am Straßenrand in den grauen Himmel ragte und bewegte sich langsam durch den Ortseingang.
Links und rechts befanden sich zweistöckige Backsteingebäude mit Flachdächern, bei denen die meisten Fenster und Türen zugenagelt waren. Instinktiv hob er die Waffe, als er zwischen zwei Häusern eine menschliche Gestalt bemerkte, als er näher kam merkte er jedoch, dass er nichts zu befürchten hatte.
Der Unglückliche war anscheinend schon eine Weile tot und hing steifgefroren in einem Gewirr von Stacheldraht, das irgendjemand zwischen den Häusern gespannt hatte. Offenbar hatte er sich hier auf der Flucht vor jemandem – oder etwas – hier verheddert und war dann verendet. Nun war die Leiche größtenteils bedeckt von den Schneefällen der letzten Tage, die morbide Version eines Schneemanns, die ihn aus blicklosen Augen anstarrte. Einen Moment lang starrte der Mann zurück, dann wandte er sich ab und ging weiter die Straße entlang – hoffend, ein Haus zu finden, in das er einsteigen konnte, um Vorräte zu finden, oder wenigstens ein Dach, unter dem er die Nacht verbringen konnte.
Ein Stück weiter befand sich abseits der Straße, hinter gewucherten, kahlen Hecken ein kleiner Spielplatz mit einem Karussell, einer Wippe und einer vereisten Schaukel, auf der er sich frierend niederließ, um sich auszuruhen. Als er sich umsah stellte er sich vor, wie es hier noch vor wenigen Jahren ausgesehen haben musste. Er dachte an rote Pick-Up-Trucks, die durch die Straßen fuhren, junge Paare, die hier an Adventssonntagen spazieren gingen, alte Männer, die auf der nun zerstörten Parkbank sitzend, die am Rande des Platzes stand, ihren Enkeln beim Spielen zusahen. Die Vergangenheit, in der es alles nicht gab, womit er sich nun tagtäglich herumschlagen musste, keine Asche, kein tägliches Ringen mit dem Tod, keine Endzeitgedanken, diese Vergangenheit verblasste mit jeder Minute und erschien ihm mittlerweile nur noch wie ein fernes Land, in dem er noch nie gewesen war, von dem er aber gehört hatte, durch Fotografien und Erzählungen, und nach dem er sich mehr und mehr sehnte, auch wenn er es niemals dorthin schaffen würde.

Der Mann gab sich einen Ruck und kehrte in die graue, verwüstete Realität zurück. Der Vergangenheit nachzutrauern hatte keinen Sinn, auch wenn sie möglicherweise das einzige war, das er noch hatte. Aber die Jahresuhr war abgelaufen und es war an der Zeit, dies zu akzeptieren.

Im Eingangsbereich eines Hauses stieß er auf eine weitere Leiche. Wie alt sie war ließ sich schwer sagen, aufgrund der Art, wie sie dalag war sie allerdings schon mehrmals gefleddert worden. Sie trug eine verrutschte olivgrüne Jacke, Blue Jeans und eine Gasmaske, mehr hatten die Plünderer nicht übrig gelassen. Außerdem war sie anscheinend als Weihnachtsrestefressen eines Rudels wilder Hunde geendet, da sie an mehreren Stellen angeknabbert war.
Sein Körper spannte sich ruckartig an, als er tiefer im Haus ein Husten hörte und er hinter einer Türe Licht aufblitzen sah. Mit gehobener Waffe ging er langsam den Flur entlang.
„Nicht schießen. Ich bin unbewaffnet.“
Die Türe öffnete sich und ein alter Mann streckte seinen Kopf in den Flur. Die Haare waren grau und gewuchert, der Bart reichte ihm fast bis auf die Brust. Er trug ein graues, schmutziges Sweatshirt mit der Aufschrift NEW YORK und eine schwarze Winterjacke, mehr konnte er nicht erkennen.
„Wer bist du?“, fragte der Mann.
„Ich bin ein Priester.“
Der Mann bemerkte ein silbernes Kreuz, das unter dem Bart des alten Mannes hervor ragte und senkte seine Waffe.
„Ich wollte ihn begraben“, sagte der Priester mit Blick auf die Leiche. „Aber der Boden ist zu hart.“ Er schaute den Mann wieder an. „Du siehst hungrig aus, willst du was essen?“
„Ja“, antwortete der Mann, ohne jedoch die Waffe zu senken. „Das wäre nett.“
Der Priester öffnete die Türe, trat einen Schritt zurück und der Mann trat ein. Das Zimmer hier war offenbar früher ein Wohnzimmer gewesen, war in der Zwischenzeit aber ausgeplündert worden. Ein alter Tisch und zwei Stühle standen darin, ebenso wie eine abgewetzte Couch und eine wacklige Vitrine, in der sich mehrere Konservendosen befanden. Auf dem ansonsten kahlen Boden stand ein Gaskocher, auf dem gerade eine Dose Bohnen kochte, daneben lag eine Taschenlampe.
„Hast du Besteck?“, fragte der Priester, während er sich neben den Kocher auf den Boden setzte.
„Ja.“
„Dann komm. Es ist gleich warm.“
Der junge Mann wuchtete seinen Rucksack auf den Boden und fischte das zugeschnürte Bündel heraus, in dem er Löffel und Gabel aufbewahrte.
„Ich bin es nicht gewohnt, mit jemandem zu teilen“, sagte er.
„Ich auch nicht. Das liegt aber daran, dass es nicht mehr viele Wanderer gibt.“
„Wohnst du hier?“
„Zeitweise, ja. Ich bin alt und müde und wandere nicht mehr sehr oft. Was ist mit dir?“
„Ich bin auf dem Weg nach Süden.“
Der Mann griff nach der Dose, die ihm der Priester entgegen hielt und nahm einen Bissen. Die Bohnen waren heiß und verbrannten seinen Mund. Es war himmlisch.
„Glaubst du an Gott?“, fragte der Priester.
Der Mann nahm einen weiteren Löffel Bohnen und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ Er zögerte nachdenklich. „Wenn es einen Gott gibt hat er vor gar nicht allzu langer Zeit sechs Milliarden Menschen getötet. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt an so einen Gott glauben will.“
Der Priester zuckte mit den Schultern. „Das ist verständlich. Aber ich glaube daran, dass alles Teil eines göttlichen Planes war, auch wenn wir ihn nicht verstehen.“
„Das macht es einfacher zu ertragen, was?“, sagte der Mann und versuchte dabei nicht, den Hohn in seiner Stimme zu verbergen.
„Ja, auch das.“
Der Mann reichte dem Priester die Bohnendose.
„Und teilst du deswegen mit mir? Weil du ein Priester bist und glaubst, dass du in den Himmel kommst?“
„Nein“, sagte der Priester, während er gegen seinen Löffel pustete. „Weil ich glaube, dass die Menschheit noch nicht verloren ist.“ Er führte den Löffel zum Mund. „Sie wird erst dann endgültig sterben, wenn es in der Welt keine Menschlichkeit mehr gibt.“
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Schön und gut, aber diese Einstellung hat mich nicht die letzten zwei Jahre am Leben erhalten.“
„Ein Menschenfeind zu sein mag das Überleben des Individuums sichern, aber nicht das der Gemeinschaft.“, sagte er, nachdem er geschluckt hatte.
„Das ist gut genug für mich.“
Der Priester lächelte ihn nur verstehend an, was den Mann etwas irritierte. Sein Blick fiel wieder auf die Dosen im Regal, dann wieder auf den Priester, der in die Bohnendose pustete. Der Mann schnappte sich seine Pistole, die neben ihm lag und schoss dem Priester in den Kopf.

Die Leiche zu durchsuchen hatte nicht lange gedauert. Ein paar Batterien hatte er gefunden, Bindfadenrollen, eine Kneifzange und eine Plastiktüte mit Zigarettenfiltern. Wo der Priester seine restliche Ausrüstung hatte wusste er nicht, er würde sie aber sicher noch finden. Als er die Leiche des Priesters vor die Haustür zerrte waren die Wolken einer sternenklaren Nacht gewichen. Die Spuren, die er vorhin noch hinterlassen hatte waren bereits wieder unter Schnee und Asche verschwunden. Ein letztes Mal durchsuchte der Mann den toten Körper. Er fand ein verblichenes Foto, das einen bärtigen Mann an der Seite einer Frau und zwei kleinen Mädchen vor einer Blockhütte zeigte. Sie lachten in die Kamera, waren aber gleichzeitig hinter einer Nebelbank aus Vergangenheit gefangen, oder jedenfalls sah es auf dem ausgeblichenen Foto so aus. Er ließ es, wo es war, genau so wie das silberne Kreuz, das, wie er wusste, keinen Wert mehr hatte.

Er betrat das Haus und verriegelte die Türe hinter sich. Er würde die Nacht hier verbringen, morgen so viele Vorräte mitnehmen wie nur möglich, und dann seinen Weg fortsetzen, nach Süden, durch das, was von der Welt noch übrig war.
Vorwürfe machte er sich keine. Da draußen war es dunkel, und es wurde immer dunkler.